Kurt Neumann: Einführung

Die Herforder Thesen, die vor gut 30 Jahren in ihrer zweiten wesentlich ergänzten und überarbeiteten Fassung erschienen, tragen den Untertitel „Zur Arbeit von Marxisten in der SPD“. Sie können daher auf gar keinen Fall unmittelbar auf die Programmdiskussion der LINKEN übertragen werden. Das ist nicht nur der zeitlichen Distanz und möglichen subjektiven Unzulänglichkeiten beim Verfassen der Herforder Thesen geschuldet, sondern der unterschiedlichen Funktion beider programmatischen Dokumente: Das Parteiprogramm der LINKEN muss notwendig der unterschiedlichen Vorgeschichte und theoretischen Ausrichtung verschiedener Teile der Mitgliedschaft durch eine entsprechende Vielfalt und Offenheit Rechnung tragen. Bei den Herforder Thesen ging es nicht um einen Beitrag für das Programm einer Partei, sondern um die inhaltliche Positionsbestimmung einer innerparteilichen Strömung, in der nach zehnjähriger intensiver Zusammenarbeit in der SPD und bei den Jungsozilisten ein beachtliches Maß an theoretischer Übereinstimmung erarbeitet worden war.

Vor allem zwei Aspekte der Herforder Thesen erscheinen aber für die programmatische Debatte von Linken bis heute unverändert zentral – auch für die jetzige Programmdebatte der LINKEN und darüber hinaus: Zum einen wird in den Herforder Thesen ein stringenter Zusammenhang hergestellt zwischen der analysierten Grundstruktur des bestehenden Kapitalismus und den angestrebten grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen. Zum anderen reflektieren die Thesen die inneren Beziehungen von objektiver klassenmäßiger Stellung in der Gesellschaft, der möglichen, aber nicht widerspruchsfreien Entwicklung von Klassenbewusstsein und der Herausbildung einer sozialistischen Programmatik.

Aus der Analyse von monopolisiertem Kapital und tendenzieller Unterordnung der politischen Potenzen des bürgerlichen Staats unter das Verwertungsinteresse des Monopolkapitals (Staatsmonopolitischer Kapitalismus) folgt die strategische Forderung nach der Vergesellschaftung der zentralen Schlüsselbereiche der Ökonomie und ihrer demokratischen Verwaltung. Ausdrücklich wird damit zugleich die vollständige Sozialisierung aller Privatunternehmen abgelehnt und stattdessen auch auf die Einbeziehung privater unternehmerischer Potenzen im Rahmen einer demokratischen gesamtgesellschaftlichen Planung gesetzt. Diese Umwälzung der ökonomischen Verhältnisse muss nach den Herforder Thesen zugleich einhergehen mit der grundlegenden demokratischen Transformation des Staates.

Wesentliche Anknüpfungspunkte für die aktuelle Programmdiskussion bieten auch die Erkenntnisse der Herforder Thesen zum Verhältnis von objektiver Klassensituation und den Problemen der Herausbildung von Klassenbewusstsein sowie den unterschiedlichen „Politischen Strömungen in der Arbeiterbewegung“. Heute müssen aber in objektiver wie subjektiver Hinsicht zusätzlich die vielfältigen Änderungen gegenüber der Zeit vor dreißig Jahre verarbeitet und in gewerkschaftliche wie parteipolitische Strategien umgesetzt werden. Schon 1980 konnten die Thesen aber die „Pluralität unterschiedlicher Strömungen und (die) Möglichkeit verschiedener Parteien der Arbeiterbewegung“ als Ziele bestimmen gegenüber sich wechselseitig ausschließenden Konzepten von der einen „Partei der Arbeiterklasse“ (DKP) oder der einen „umfassenden Organisation der arbeitenden Menschen“ (SPD)[1]. 1999 haben einige von uns, als wir auf der inhaltlichen Basis der Herforder Thesen den Schritt in die damalige PDS gemacht haben, noch weitergehend formuliert: „Eine mehrheitsfähige politische Linke kann sich unter den heutigen Bedingungen nur in mehreren Parteien entwickeln, die unabhängig voneinander sind, sich wechselseitig korrigieren und nicht im Gegeneinander erschöpfen.“[2] Davon ist nichts zurückzunehmen, wenn auch die Entwicklung jenseits der Partei DIE LINKE noch sehr zu wünschen lässt.

Von den inhaltlichen Positionen der Herforder Thesen her bietet der im März 2010 vorgelegte Entwurf der Programmkommission eine geeignete Basis für die programmatische Weiterentwicklung der LINKEN, auch für ihre selbstbewusste praktische Aktions- und Bündnisfähigkeit. Das heißt nicht, dass wir keiner weiteren programmatischen Anstrengungen und kontroverser Diskussionen auch über die Parteigrenzen hinaus[3] bedürften. Die heutige Veranstaltung ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg, weitere werden folgen müssen.



[1]    Diese Position vertrat nach 1969 die Mehrheit des damaligen Juso-Bundesvorstands.

[2]    Diether Dehm / Kurt Neumann / Andreas Wehr: Brief vom 12. November 1999.

[3]    Vgl.: Kurt Neumann / Andreas Wehr: 30 Jahre Herforder Thesen – Wie weiter?: in: spw 183 (2/2011), S. 63-68.